Ein häufiger Streitpunkt bei der Beurteilung der Berufsunfähigkeit ist der Beruf des Versicherungsnehmers, wie er zuletzt gesunden Tagen ausgestaltet war. Tritt eine schleichende Verschlimmerung der Erkrankung (wie beispielweise bei psychischen Erkrankungen oder Rückenbeschwerden) ein, reduzieren die Versicherten oftmals schrittweise ihre Arbeitszeit. Versicherer behaupten dann oft, es gelte die zuletzt ausgeübte reduzierte Tätigkeit und die Voraussetzungen für die Berufsunfähigkeit lägen nicht vor. Das Oberlandesgericht Frankfurt am Main beschäftigte sich mit der Frage und trifft für Versicherungsnehmer wichtige Aussagen.
OLG Frankfurt am Main, Urteil vom 18.11.2022 – 7 U 113/20
Zum Sachverhalt
Die klagende Versicherungsnehmerin war seit 1993 als niedergelassene Fachärztin für Gynäkologie gemeinsam mit ihrem Ehemann in einer Gemeinschaftspraxis tätig. Hier übte sie zunächst eine Vollzeittätigkeit aus.
Als der Ehemann den Kassenarztsitz aus Altersgründen veräußerte, veranlasste die Klägerin zum 01.01.2013 die Umwandlung der Hälfte ihres Kassenarztsitzes in einen Angestelltensitz. Die Klägerin arbeitete von da an nur noch 15 bis 20 Stunden in der Woche. Ab dem 01.10.2015 arbeitete die Klägerin nur noch wenige Stunden in der Woche.
Im September 2015 stellte die Versicherungsnehmerin einen Antrag auf Leistungen aus der Berufsunfähigkeitsversicherung beim beklagten Versicherer aufgrund von orthopädischen und psychischen Beschwerden. Die Klägerin gab an, in der Woche an vier Tagen zehn bis zwölf Stunden täglich gearbeitet zu haben und stellte ihre berufliche Tätigkeit in der Praxis dar.
Der beklagte Versicherer trat in die Leistungsprüfung ein und beauftragte die Erstellung eines neuropsychiatrischen Gutachtens. Der Gutachter kam zu dem Ergebnis, es läge eine leichte bis mittelgradige depressive Episode vor. Die Klägerin sei aber nur zu 25% in ihrer Berufsuntätigkeit eingeschränkt und könne der Praxistätigkeit in einem Umfang von 15 Wochenstunden nachgehen. Bei Zugrundelegung von 20 Wochenstunden könne die Klägerin Ihre Praxistätigkeit also noch zu 75% ausüben.
Daneben holte die Beklagte ein orthopädisches Gutachten ein. Der Gutachter traf die Aussage, dass die Klägerin weder auf orthopädischem noch aus psychischen Gründen in ihrer Berufstätigkeit eingeschränkt sei, wobei auch dieser Gutachter eine Tätigkeit von 20 Wochenstunden zugrunde legte.
Die Klägerin stellte im Prozess dar, dass sie wegen Wirbelsäulenbeschwerden, einer Kniegelenksarthrose sowie Depressionen zu mindestens 50% berufsunfähig sei. Seit 1995 bestünden ständige orthopädische Beschwerden wie Bandscheibenvorfälle and der Hals- und Lendenwirbelsäule sowie Wirbelblockierungen und muskuläre Dysbalancen. Die Schmerzen hätten ständig zugenommen und die Versicherungsnehmerin musste ihre Arbeitszeit ständig reduzieren. Bei der Beurteilung der Berufsunfähigkeit sei daher auf die Tätigkeit zuletzt in gesunden Tagen abzustellen, die 40 bis 48 Stunden betrug.
Die Beklagte hielt dem entgegen, dass die Klägerin bereits seit 2013 nur noch ca. 20 Stunden gearbeitet hatte und auf diese Arbeitszeit bei der Beurteilung der Berufsunfähigkeit abzustellen sei. Die vollständige Aufgabe des Kassenarztsitzes sei nicht leidensbedingt erfolgt, sondern weil der Ehemann aus Altersgründen ausgeschieden sei und die Praxistätigkeit keinen Gewinn mehr erbracht hätte.
Das Landgericht hatte erstinstanzliche ein orthopädisch-traumatologisches Gutachten sowie ein psychiatrisch-psychosomatisches Gutachten eingeholt. Das Gericht gab der Klage statt und folgte der Klägerin, dass die Reduzierung der Arbeitszeit leidensbedingt erfolgt sei. Als Anknüpfungspunkt für die Berufsunfähigkeit sei also die Vollzeittätigkeit von 40 bis 48 Stunden zugrunde zu legen.
Der beklagte Versicherer legte gegen das Urteil Berufung ein und vertrat weiter die Auffassung, es sei auf die Teilzeittätigkeit von 15 bis 20 Stunden abzustellen.
Die Entscheidung des Oberlandesgerichts
Das OLG wies die Berufung des Versicherers zurück. Die Richter stellten nochmals klar, dass auf den Beruf abzustellen ist, wie er zuletzt in gesunden Tagen ausgeübt wurde.
„Danach setzt Berufsunfähigkeit voraus, dass der Versicherte seinen zuletzt ausgeübten Beruf, so wie er ohne gesundheitliche Beeinträchtigung ausgestaltet war, infolge der in den Bedingungen genannten gesundheitlichen Beeinträchtigungen ganz oder teilweise nicht mehr ausüben kann (BGH, Beschluss vom 16.01.2019 – IV ZR 182/17 ).“
Danach war hier auf den Umfang von 40 bis 48 Stunden pro Woche abzustellen und nicht auf die reduzierte Tätigkeit von 15 bis 20 Stunden.
Eine Absage erteilten die Richter der Ansicht des beklagten Versicherers, dass auf die reduzierte Tätigkeit abzustellen sei, wen zwischen dem ersten Auftreten der Beschwerden und der tatsächlich behaupteten leidensbedingten Einschränkungen ein derart langer Zeitraum.
Hierzu das OLG Frankfurt am Main:
„Der Versicherungsfall in der Berufsunfähigkeit stellt kein punktuelles Ereignis dar, ein schlagartiger Leistungsabfall ist nicht die Regel. Dass jeder Mensch im Laufe seines Lebens altersbedingt sowie aufgrund von Erkrankungen und Verletzungen Beeinträchtigungen erleiden kann, die sich auf seine berufliche Leistungsfähigkeit auswirken, hat nicht zur Folge, dass sich der bedingungsgemäß festgelegte Grad von Berufsunfähigkeit, der erst Anspruch auf die zugesagten Leistungen gibt, an einem fortlaufend absinkenden Leistungsniveau des Versicherten als Vergleichsmaßstab orientiert. Damit wäre die Berufsunfähigkeitsversicherung entwertet. In den Fällen eines langsam fortschreitenden Leidensprozesses oder Kräfteverfalls würde häufig der Versicherungsfall nicht eintreten, obwohl die Beeinträchtigung des Versicherten, gemessen an seiner Leistungsfähigkeit in gesunden Tagen, 50% längst erreicht oder gar überschritten hat. Da der Versicherungsfall bedingungsgemäß erst mit dem Erreichen eines bestimmten Grades von Berufsunfähigkeit eintritt, ist die Heranziehung eines Vergleichszustandes für die Ermittlung des maßgeblichen Grades unerlässlich. Dieser Vergleichszustand kann grundsätzlich nur einheitlich gefunden werden und nicht davon abhängen, ob bedingungsgemäße Berufsunfähigkeit sich langsam fortschreitend entwickelt hat oder zeitgleich mit einem plötzlichen Ereignis eingetreten ist. Maßgebend ist demnach grundsätzlich die letzte konkrete Berufsausübung, so wie sie in noch gesunden Tagen ausgestaltet war, d.h. solange die Leistungsfähigkeit des Versicherten noch nicht beeinträchtigt war (BGH, Urteil vom 22.09.1993 – IV ZR 203/92).“
Die leidensbedingte Einschränkung begründet gerade den Versicherungsfall. Es ist in den Versicherungsbedingungen nicht entnehmbar, dass dies einer zeitlichen Einschränkung unterfallen soll.
Es ist außerdem nicht notwendig, dass die Reduzierung ausschließlich leidensbedingt erfolgt ist. Ebenfalls sind an den Nachweis des leidensbedingten Berufswechsels keine besonderen Anforderungen zu stellen. Es ist daher unschädlich, dass die Reduzierung der Arbeitszeit im Jahr 2013 nicht nur leidensbedingt geschah, sondern der Klägerin gelegen kam, da der Ehemann aus Altersgründen seinen Kassenarztsitz aufgegeben hatte.
Anmerkung
In Rechtsstreitigkeiten in der Berufsunfähigkeitsversicherung behaupten Versicherer bei einer Reduzierung der Arbeitszeit häufig, es sei auf die letzte reduzierte Tätigkeit und nicht auf die ursprüngliche Vollzeittätigkeit abzustellen. Das Oberlandesgericht Frankfurt folgt mit diesem Urteil einer ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs. Die Richter stellen außerdem klar, dass es unschädlich ist, wenn die Reduzierung der Arbeitszeit nicht ausschließlich leidensbedingt erfolgte. An den klagenden Versicherungsnehmer sind auch keine besonderen Anforderungen an den Nachweis für die Gründe des Berufswechsels zu stellen.
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