Die Gliedertaxe in der privaten Unfallversicherung

In den meisten Fällen werden Invaliditätsgrad und Invaliditätsleistung in der privaten Unfallversicherung nach einer Gliedertaxe bestimmt. Was eine solche Gliedertaxe ist, wie sie angewendet gibt und welche Probleme es geben kann, erfahren Sie in diesem Beitrag. 

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Was ist eine Gliedertaxe in der privaten Unfallversicherung?

Die Gliedertaxe ist ein fester Bestandteil der meisten Verträge über eine private Unfallversicherung. Die Versicherungsbedingungen enthalten Tabellen mit Prozentsätzen, nach denen bei Verlust oder die Funktionsunfähigkeit bestimmter Gliedmaßen oder Organen der Invaliditätsgrad bestimmt wird. Durch einen Arzt wird im Rahmen einer Begutachtung bei einer teilweisen Funktionsbeeinträchtigung eine Quote angenommen, nach der sich schließlich die Invaliditätsleistung bemisst.

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Konkrete Werte in der Gliedertaxe

Die konkreten Werte einer Gliedertaxe sind in den Allgemeinen Unfallversicherungsbedingungen geregelt (AUB). Die Höhe kann also individuell vereinbart werden. Der Gesamtverband der Versicherer empfiehlt beispielsweise die nebenstehenden Werte.

In vielen höherwertigen Unfallversicherungen sind jedoch deutlich höhere Gliedertaxen vereinbart. So hat die Zeitschrift Finanztip in einer Umfrage herausgefunden, dass beispielsweise im Durchschnitt für einen Arm von 80%, oder ein Bein von 77% vereinbart werden. In besonders hochwertigen privaten Unfallversicherungen sind sogar 100%, also Vollinvalidität, für den Verlust eines Arms oder eines Beins vereinbart.

  • Arm 70 %
  • Arm bis oberhalb des Ellenbogengelenks 65 %
  • Arm unterhalb des Ellenbogengelenks 60 %
  • Hand 55 %
  • Daumen 20 %
  • Zeigefinger 10 %
  • anderer Finger 5 %
  • Bein über der Mitte des Oberschenkels 70 %
  • Bein bis zur Mitte des Oberschenkels 60 %
  • Bein bis unterhalb des Knies 50 %
  • Bein bis zur Mitte des Unterschenkels 45 %
  • Fuß 40 %
  • große Zehe 5 %
  • andere Zehe 2 %
  • Auge 50 %
  • Gehör auf einem Ohr 30 %
  • Geruchssinn 10 %
  • Geschmackssinn 5 %
Gliedertaxe in der privaten Unfallversicherung

Wie berechnet sich der Invaliditätsgrad anhand einer Gliedertaxe?

Die Gliedertaxe beschreibt immer den Invaliditätsgrad, wie er beim Verlust oder beim völligen Verlust der Gebrauchsfähigkeit zu zahlen ist. Bei einem teilweisen Verlust der Gebrauchsfähigkeit, wird die Entschädigung anteilig berechnet.

Ein Beispiel:

Es ist eine Invaliditätssumme von 100.000,00 € vereinbart.

Die Gliedertaxe für einen Arm beträgt 70%.

Der Gutachter stellt eine Gebrauchsminderung des linken Arms von 10/20 fest.

Es sind 10/20 von 70% zu berechnen, was eine Gesamtinvalidität von 35% ergibt. Somit sind 35.000,00 €, also 35% aus der Versicherungssumme zu zahlen.

Bemessung außerhalb der Gliedertaxe

Sind Körperteile oder Sinnesorgane nicht in der Gliedertaxe aufgeführt, ist festzustellen, inwieweit die körperliche oder psychische Leistungsfähigkeit insgesamt beeinträchtigt ist. Es erfolgt eine Bemessung außerhalb der Gliedertaxe. Es sind ausschließlich Gesichtspunkte zu berücksichtigen. Die Beeinträchtigung der Funktionsfähigkeit ist anhand der Leistungsfähigkeit eines Unversehrten gleichen Alters und Geschlechts zu bemessen.

Eine Abgrenzungsproblematik ergibt sich um die Anwendung der Gliedertaxe bei Schultergelenksverletzungen und den recht häufigen Fall von Schäden an der Rotatorenmanschette und Zerreißungen an der Supraspinatussehne. Die wohl herrschende Meinung will die Bemessung außerhalb der Gliedertaxe vornehmen, da der durchschnittliche Versicherungsnehmer die Schulter nicht dem Arm zuordne. Die Konsequenz dieser Ansicht war, dass Unfallversicherer Invaliditätsleistungen zahlen wollten, die unter denen für einen Arm lagen. Das Oberlandesgericht Karlsruhe stellte in einer wegweisenden Entscheidung fest, dass dennoch die Wertungen der Gliedertaxe entsprechend angewendet werden müssen, was der Bundesgerichtshof letztlich bestätigte (BGH vom 27.09.2017, Az. IV ZR 511/15; OLG Karlsruhe vom 30.12.2016, Az. 12 U 97/16). In der Praxis bemessen Gutachter meistens nach Maßgabe des Armwertes.

Was ist eine Progression in der privaten Unfallversicherung?

Viele Versicherer bieten die Vereinbarung einer Progressionsstaffel an. Dies führt dazu, dass mit steigendem Invaliditätsgrad die Invaliditätsleistung überproportional steigt. Die meisten Progressionsstaffeln greifen erst ab einem Invaliditätsgrad von 25%. Der Versicherungsnehmer enthält für Invaliditätsgrade über dieser Grenze ein Vielfaches der Invaliditätssumme.

Welche Probleme gibt es mit der Gliedertaxe in der privaten Unfallversicherung?

Auch bei der Anwendung der Gliedertaxe treten in der Praxis des Rechtsanwalts für private Unfallversicherung vielfältige Probleme auf. Das durchaus komplizierte System der Gliedertaxen bildet im Zusammenhang mit den von Versicherern verwendeten Bemessungsempfehlungen ist für Versicherungsnehmer schwer durchschaubar. Demnach werden Invaliditätsleistungen auch immer wieder „heruntergerechnet“ beziehungsweise werden auf den denkbar niedrigsten Wert angesetzt. Einige Probleme, warum private Unfallversicherer nicht zahlen oder Leistungen kürzen, werden nachfolgend dargestellt. 

Gliedertaxe vs. individuelle Einschränkung

Viele Versicherungsnehmer berichten über große dividuelle Beeinträchtigungen. Die private Unfallversicherung gleicht jedoch nicht die individuellen Einschränkungen aus, sondern zahlt eine vertraglich festgesetzte Summe für eine objektivierbare Einschränkung der unfallbedingten körperlichen oder psychischen Beeinträchtigungen.

Beispiel: Ein Chirurg verliert den Daumen. Die Gliedertaxe sieht 20 % vor – der tatsächliche berufliche Schaden ist jedoch existenzbedrohend.

Tipp: Für bestimmte Berufe bietet der Markt individuelle Unfallversicherungen an. So bestehen spezielle Unfallversicherungen für Leistungssportler, Künstler oder hoch bezahlte Manager.

Streit über die Höhe der Teilinvalidität

Der wohl häufigste Grund für Probleme mit der privaten Unfallversicherung ist wohl die Höhe der Teilinvalidität. Uns erreichen immer wieder Fälle, in denen Versicherer Leistungen nicht auszahlen, obwohl ein Gutachter einen entsprechenden Invaliditätsgrad nach der Gliedertaxe festgestellt hat. Häufig ist auch der Fall, dass ein klinisch tätiger Arzt einen bestimmten Invaliditätsgrad festgestellt, der Unfallversicherer aber einen zweiten Gutachter (teilweise von einem Gutachterinstitut) beauftragt, der den Invaliditätsgrad herunterrechnet.

Viele Versicherungsnehmer recherchieren auch selbständig und stellen fest, dass ihnen zu wenig gezahlt werden soll. Sollten Sie Zweifel am Invaliditätsgrad haben, können Sie bei uns Ihr Gutachten immer kostenlos prüfen lassen.

Sitz der unfallbedingten Schädigung

Die Rechtsprechung geht seit Jahrzehnten davon aus, dass bei Anwendung der Gliedertaxe der Sitz der unfallbedingten Schädigung maßgebend ist (zum Beispiel: BGH, Urteil vom 14.12.2011 – IV ZR 34/11; BGH, Urteil vom 01.04.2015 – IV ZR 104/13).

Wichtig ist, dass es hierbei nicht auf den von Versicherern gern zitierten „Erstkörperschaden“ ankommt. Es ist nicht entscheidend, wo eine erste unfallbedingte Verletzung stattgefunden hat, sondern wo sich die unfallbedingten Defizite auswirken.

Beispiel: Der Versicherte erleidet einen Lendenwirbelbruch und ist von der Hüfte abwärts gelähmt. Es kommt zunächst nicht auf den Wirbelbruch an, sondern auf die Funktionsunfähigkeit der Beine.

Daneben sind ausstrahlende Schmerzen ihrem Ursprungsitz zuzuordnen. Der Bundesgerichtshof nimmt an, dass die Ausstrahlungen von Schmerzen auf ein Restglied in dem für das Teilglied bestimmten Invaliditätsgrad bereits mitberücksichtigt sind (BGH, Urteil vom 17.01.2001 – IV ZR 32/00).

Anders muss es aber aussehen, wenn die Leistungseinschränkungen des mittelbar betroffenen Körperteils keine bloße Begleiterscheinung sind. Hat sich eine eigenständige Funktionsbeeinträchtigung entwickelt, wird nach der Gliedertaxe des körperferneren Körperteils zu bemessen sein.

Hinweis: Die Feststellung des „Sitzes der unfallbedingten Schädigung“ kann im Einzelfall schwierig sein. Entwickeln sich Funktionseinschränkungen an höher zu bemessenden Körpergliedern ist durch den Gutachter immer festzustellen, ob es sich um eine bloße Begleiterscheinung handelt oder ob sich durch die Ausstrahlung eine selbstständige Funktionsbeeinträchtigung entwickelt hat.

Mehrfachverletzungen

Sind mehrere in der in der Gliedertaxe aufgeführte Körperteile verletzt, werden die Invaliditätsgrade zusammengerechnet. Die durch Addition ermittelte Gesamtinvalidität ist jedoch auf eine 100%ige Vollinvalidität begrenzt.

Dieser Grundsatz gilt nicht, wenn neben einem übergeordneten Glied auch ein untergeordnetes Glied betroffen ist (Beispiel: neben dem Arm ist auch die Hand verletzt). In diesem Fall ist anhand der Gliedertaxe für das rumpfnähere Glied zu bemessen, wobei im Wege einer gutachterlichen Gesamtbetrachtung der Invaliditätsgrad unter Heranziehung des Prozentsatzes für das körpernähere Glied zu bestimmen.

Wird der Invaliditätsgrad außerhalb der Gliedertaxe bemessen, ist zu ermitteln, wie die Verletzungen insgesamt die körperliche und geistige Leistungsfähigkeit beeinträchtigen. Invaliditätsgrade, die nach Gliedertaxe bemessen wurden, sind diesem Invaliditätsgrad hinzuzurechnen.

Fazit

Die Gliedertaxe ist ein zentrales Instrument zur Bemessung des Invaliditätsgrades in der privaten Unfallversicherung. Sie schafft zwar scheinbare Klarheit durch feste Prozentwerte, führt in der Praxis aber häufig zu Streitigkeiten – sei es wegen unklarer Zuordnungen, Teilinvaliditäten oder medizinisch-juristischer Bewertungsunterschiede. Gerade bei komplexen Verletzungen wie Schulter- oder Nervenschäden zeigt sich, dass die versicherungsseitige Anwendung der Gliedertaxe oft zum Nachteil der Versicherten erfolgt.

Betroffene sollten ihre Invaliditätsfeststellung nicht ungeprüft akzeptieren. Eine  Überprüfung durch einen Rechtsanwalt für die private Unfallversicherung ist in fast allen Fällen angezeigt. 

Sie können Ihr Gutachten oder Ihre Ablehnung über das Kontaktformular kostenfrei im Rahmen einer Ersteinschätzung überprüfen lassen.

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