In der privaten Unfallverletzung gehören Verletzungen der Schulter zu den häufigsten Gründen für Invalidität. Insbesondere Sehnenrisse in der Rotatorenmanschette bzw. der Supraspinatussehne gehören dabei zu den häufigsten Problemen, die ein Rechtsanwalt in der privaten Unfallversicherung zu bearbeiten hat. Im folgenden Beitrag können Sie sich informieren, warum die Unfallversicherung nicht zahlt oder die Invaliditätsleistung bei Schulterverletzungen kürzt.
Nach einem Sturz auf die Schulter zahlen Unfallversicherer häufig keine Invaliditätsleistung, wenn es sich um eine Ruptur der Rotatorenmanschette bzw. einen Riss der Supraspinatussehne handelt. Entweder wird der Zusammenhang (Kausalität) mit dem Unfallereignis bestritten oder Versicherer kürzen die Invaliditätsleistung wegen angeblicher Mitwirkung von Krankheiten und Gebrechen. Der Beitrag wird sich daher auf diese sehr häufige Verletzung konzentrieren.
Bei der Rotatorenmanschette handelt es sich um einen Teil des Schultergelenkes. Sie besteht aus den Sehnen von vier Muskeln (Musculus subscapularis, Musculus supraspinatus, Musculus infraspinatus, Musculus teres minor) und den Muskeln selbst. Die Rotatorenmanschette umfasst und stabilisiert das Schultergelenk. Im Wesentlichen sorgt diese Struktur für die Kraftübertragung der einzelnen Muskeln und die Zentrierung des Humeruskopfes (Kopf des Oberarmknochens) in der Schulterpfanne bei Armbewegungen. Durch ihren manschettenförmigen Aufbau mit den rund um den Oberarmkopf ansetzenden Muskelsehnen entsteht die Funktionalität des Schultergelenks, das in alle Richtungen beweglich ist. Bei Bewegungen des Humeruskopfes gleitet die Rotatorenmanschette im subakromialen Raum. Dieser wird durch das Ligamentum coracoacromiale (ein sehr kräftiges Band, das sich zwischen dem Processus coracoideus, einem Fortsatz des Schulterblattes, und dem Akromion ausspannt), das Akromion (Schulterdach) und teilweise von der Unterseite des Akromioklavikulargelenks gebildet.
Entzündliche Prozesse , mechanische Einflüsse (äußere oder genetisch bedingte) und degenerative Prozesse der Sehnen selbst können zu Schwächungen und Rupturen führen. Die Versicherer und Ihre Gutachter behaupten daher oft, dass ein direkter Sturz auf die Schulter oftmals ungeeignet sei, um eine Rotatorenmanschettenruptur zu verursachen. Diese Einschätzung ist jedoch problematisch, was im Folgenden gezeigt werden soll.
Die Abgrenzung, ob einen Sehnenriss auf einem Unfall oder degenerativen Vorschäden beruht, kann im Einzelfall sehr schwierig sein. Allzu oft behaupten Versicherer und deren medizinische Gutachter daher, die Invalidität sei nicht Folge eines Sturzes sondern ein Ergebnis degenerativer Prozesse.
In Deutschland wird die versicherungsmedizinische Literatur in weit überdurchschnittlichem Maße von Medizinern geprägt, die überwiegend im Auftrag von Versicherern tätig sind. Die führt dazu, dass Gutachter sich oftmals auf Literatur stützen, die Unfallkausalität bei Rotatorenmanschettenverletzungen, besonders bei direkten Stürzen auf die Schulter, ablehnen und sich auf Vorschäden berufen. Selbst nach neuestem Stand der medizinischen Literatur gibt es keine wissenschaftlichen Untersuchungen zu diesem Thema. Im internationalen Vergleich sind diese pauschalen Aussagen kaum haltbar.
Die Unterscheidung zwischen geeigneten und ungeeigneten Unfallmechanismen, wie sie in der deutschen versicherungmediziniscn Literatur vorgenommen wird, basiert auf dem Anspruch von Unfall- und Haftpflichtversicherungen, eine Kausalitätsbeurteilung vorzunehmen: „Um den Ursachenzusammenhang zwischen dem äußeren Geschehen und dem Schaden beurteilen zu können, ist eine Abgrenzung zu konkurrierenden nicht versicherten Faktoren vorzunehmen.“ (NYFFELER/LUSTENBERGER/BISSIG, Sturz (2024))
Könne kein unfallbedingter Schaden nachgewiesen werden, so könne keine Rente ausgezahlt werden. Das Minimum des Unfallschadens am Gesamtschaden müsse dabei 33,3 % betragen, ansonsten sei die Wesentlichkeit nicht mehr gegeben und der gesamte Schaden werde als unfallunabhängig bewertet. In solchen Fällen wird eine Vorschädigung häufig als Hauptursache für den Schaden gewertet, was zulasten der Versicherten geht. Diese Annahmen sind auch aus juristischer Sicht nicht haltbar. Sie widersprechen dem Kausalitätsbegriff in der privaten Unfallversicherung.
Wie alle anderen Gelenke unterliegt auch das Schultergelenk einem (normalen) altersbedingten Verschleiß, der von Mensch zu Mensch neben anlagebedingten Ursachen auch abhängig von der sportlichen und beruflichen Tätigkeit unterschiedlich stark ist. Mit zunehmendem Alter könnten degenerative Sehnenveränderungen häufiger auftreten – zumeist ohne Symptome. Auch Spontanrupturen sind möglich. Selbst Rupturen können ohne Symptome oder Funktionsausfälle auftreten – zumindest bis zum Zeitpunkt des versicherten Ereignisses, meistens also eines Unfalls. Das macht eine entsprechende Begutachtung der Verletzung oft sehr schwierig, da eine Einschätzung erfolgen muss, welche Verletzungen durch das Unfallereignis und welche durch den altersbedingten Verschleiß entstanden sind. Es bestehen also die höchsten Anforderungen an den Gutachter.
Diesen Anforderungen scheinen Gutachter in Deutschland nicht immer gerecht zu werden. Es ist also klar, dass Rupturen der Rotatorenmanschette zu den häufigsten Schulterverletzungen gehören und mit fortschreitendem Alter zunehmen. Dies bestätigen entsprechende Studien: Die Prävalenz für Läsionen der Rotatorenmanschette steigt mit dem Alter auf 13 bis 32 % und für Komplettrupturen auf 19 bis 32 %. Unklar ist jedoch, wie hoch der Anteil des Unfallschadens bei verschiedenen Verletzungen zu bemessen ist und was als geeigneter Verletzungsmechanismus gilt. Die Problematik soll das folgende in der Literatur geschilderte Fallbeispiel erläutern.
Das nachfolgende Beispiel beschriebt einen Direktsturz auf die Schulter (Direktanprall), der allgemein als ungeeigneter Verletzungsmechanismus gilt. Die klinisch tätigen Ärzte zeigen, dass ein solcher Aufprall durchaus geeignet ist, eine Ruptur der Rotatorenmanschette zu verursachen.
In einem aktuellen Beitrag (aus dem Jahr 2024) beschreiben die Mediziner NYFFELER, LUSTENBERGER und BISSIG einen Sturz mit Schulterverletzungen. Die schweizer Orthopäden mit langjähriger Berufserfahrung zeigen auf, dass ein Sturz auf die Schulter sehr wohl geeignet sein kann, eine Ruptur der Rotatorenmanschette und eine Invalidität zu verursachen. Ein solcher Sturz würde folglich einen Anspruch auf die Invaliditätsleistung in der Unfallversicherung begründen.
Kurz zum Sachverhalt: Ein gesunder Mann im Alter von 50 Jahren war beim Aussteigen aus dem Lieferwagen ausgerutscht und direkt auf seine rechte und zugleich dominante Schulter gestürzt. Am Folgetag suchte er aufgrund sofort auftretender starker Schmerzen die Notfallaufnahme auf, um eine Fraktur auszuschließen; den Arm konnte der Betroffene zudem nicht mehr aktiv anheben. Durch eine Röntgenuntersuchung konnte eine Fraktur ausgeschlossen werden, ein Hämatom war nicht vorhanden; aufgrund der schmerzbedingten reduzierten Möglichkeit zur Beurteilung wurde eine Prüfung der Rotatorenmanschette nicht durchgeführt. Der Patient wurde mit der Verordnung von Schmerzmitteln entlassen. Nach drei Tagen wurde eine Verlaufskontrolle durchgeführt, wobei zwar die Schmerzen geringer, aber Bewegung und Kraft noch verringert waren. Aus diesem Grund wurde sechse Tage nach dem Unfallereignis eine Arthro-MRT-Untersuchung durchgeführt. Diese zeigte dann eine „vollständige Ruptur der Supraspinatussehne, Subscapularissehne und Infraspinatussehne sowie eine Luxation der langen Bizepssehne aus dem Sulcus intertubercularis [Rille am Oberarmknochen, in der die Bizepssehne liegt] heraus. […]“ Die Verletzung, ausgelöst durch einen Direktanprall der Schulter, wurde entsprechend operativ versorgt. Vor dem beschriebenen Unfall hatte der Patient keine Schulterprobleme oder Stürze erlitten.
Studien außerhalb Deutschlands bestätigen, dass Stürze auf die Schulter zu Rupturen der Rotatorenmanschette führen können. So haben NYFFELER, LUSTENBERGER und BISSIG aus 67 Studien, die einem Peer-Review unterlagen, zusammengetragen, dass in 4.061 unfallverursachten Fällen von Rupturen der Rotatorenmanschette Stürze mit 18 % die häufigste Ursache für einen traumatischen Sehnenriss waren. Als weitere Ursachen für Rotatorenmanschettenrupturen werden Schulterluxation mit 14 %, plötzlicher und kräftiger Zug am Arm mit 7 %, Sportverletzungen mit 4 %, Schlag gegen die Schulter oder Direktanprall mit 3 %, Verkehrsunfälle mit 2 % und Hyperextension (Überstreckung), forcierte Abduktion und Außenrotation oder Festhalten an einem Geländer mit 2 %, Heben eines schweren Gegenstandes oder Auffangen eines fallenden Objektes mit 1 % angegeben; nicht näher bezeichnet wurden die Verletzungsmechanismen in 49 % der Fälle.
Zurück zum beschriebenen Fall: In diesem war der Patient also direkt auf die rechte Schulter gestürzt, infolge wurde eine Rotatorenmanschettenruptur diagnostiziert, eine sehr zeitnahe MRT-Aufnahme (die bei einer älteren Verletzung eine fortgeschrittene Muskelatrophie aufgezeigt hätte) sowie die intraoperative Beurteilung zeigten, dass es sich um einen frischen Sehnenriss handelte. Zwar wurde auf eine Biopsie verzichtet, die womöglich degenerative Prozesse hätte aufzeigen können, jedoch hätte auch ein solcher Befund die vorliegende Unfallkausalität nicht beeinflusst. Wie in jedem Gewebe sind auch im Falle der Rotatorenmanschette Alterungsprozesse natürlich und normal. Diese bedingen jedoch nicht automatisch Funktionsbeeinträchtigungen oder Symptome. Wenngleich die Tatsache, dass der genaue Pathomechanismus, der bei einem Sturz auf die Schulter zur Ruptur der Rotatorenmanschette führen kann, noch nicht bekannt bzw. bewiesen ist, so liefert das beschriebene Beispiel doch die Evidenz dafür, dass ein direkter Sturz auf Schulter eine Ruptur der Rotatorenmanschette auslösen kann.
Die Schlussfolgerung von NYFFELER, LUSTENBERGER und BISSIG, dass „die bisherige Unterteilung in geeignete und ungeeignete Stürze in der deutschsprachigen versicherungsmedizinischen Literatur […] willkürlich [ist], weil es keine biomechanischen Studien dazu gibt, und weil die klinischen Studien zu einem anderen Schluss kommen“ , sei an dieser Stelle besonders klar hervorgehoben. Zum einen ist diesem Fazit aus langjähriger fachanwaltlicher Sicht zuzustimmen und zum anderen sind Läsionen der Rotatorenmanschette nach einem Sturz aufgrund der angelsächsischen Literatur eben unabhängig von der Sturzrichtung und der Stellung des Armes „als unfallbedingte Läsionen zu betrachten.“
Die Höhe des Invaliditätsgrads bei einer Schulterverletzung hängt stark von deren Schwere ab.
Eine grundsätzliche Frage besteht, ob bei der Schulter die Gliedertaxe anzuwenden ist.
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