Versicherungsbedingungen in der Berufsunfähigkeitsversicherung enthalten regelmäßig eine Verweisungsklausel; meist eine konkrete Verweisung. Dem gegenüber sind abstrakte Verweisungen nur noch selten vereinbart. Die häufigsten Anfragen, die den Rechtsanwalt für Berufsunfähigkeitsversicherung erreichen, drehen sich um einen möglichen Hinzuverdienst.
Das Recht den Versicherungsnehmer auf eine andere Tätigkeit zu verweisen, ergibt sich aus den Voraussetzungen für die Berufsunfähigkeit. Gesetzlich geregelt sind Verweisungsklauseln in § 172 Abs. 3 VVG:
Als weitere Voraussetzung einer Leistungspflicht des Versicherers kann vereinbart werden, dass die versicherte Person auch keine andere Tätigkeit ausübt oder ausüben kann, die zu übernehmen sie auf Grund ihrer Ausbildung und Fähigkeiten in der Lage ist und die ihrer bisherigen Lebensstellung entspricht.
Diese Vorschrift findet in den Versicherungsbedingungen leicht unterschiedliche Ausprägungen. In den Musterbedingungen des GDV aus 2022 findet sich die folgende Regelung:
Berufsunfähigkeit liegt vor, wenn […]
und auch keine andere Tätigkeit ausübt, die ihrer bisherigen Lebensstellung entspricht.
Der bisherigen Lebensstellung entspricht nur eine Tätigkeit, die in ihrer Vergütung und sozialen Wertschätzung nicht spürbar unter das Niveau der bislang ausgeübten Tätigkeit absinkt.
Der eingerückte Teil regelt das Recht des Versicherers, eine konkrete Verweisung vorzunehmen.
Allgemein lassen sich die folgenden Voraussetzungen für eine konkrete Verweisung formulieren:
An diesen Punkten entstehen (wie so oft im Versicherungsrecht) diverse Streitpunkte, mit denen sich Versicherer und Anwälte im Versicherungsrecht konfrontiert sehen.
Sie müssen eine konkrete andere Tätigkeit tatsächlich ausüben. Dies klingt zunächst einfach.
Aber was ist, wenn Sie aufgrund zunehmender gesundheitlicher Probleme in einen anderen Beruf wechseln, da Sie auf das Einkommen angewiesen sind? Man spricht dann von einem leidensbedingten Berufswechsel. Der Versicherer kann Sie in diesem Fall nicht auf die neue Tätigkeit verweisen, sofern bereits zuvor Berufsunfähigkeit vorlag.
Teilweise wird versucht, den neune Beruf als Anknüpfungspunkt für die Berufsunfähigkeit heranzuziehen. BU-Versicherer zahlen nicht mit der Begründung, die Berufsunfähigkeit müsse sich auf diesen neuen Beruf beziehen. Dies ist oftmals falsch, weil an den Beruf angeknüpft wird, wie er zuletzt in gesunden Tagen ausgeübt wurde.
Ähnlich verhält es sich übrigens, wenn Sie trotz vorliegender Berufsunfähigkeit weiterarbeiten. In diesen Fällen liegt ein überobligatorischer Einsatz vor. Sie würden Raubbau an der eigenen Gesundheit betreiben. Auch in diesem Fall darf der Versicherer nicht darauf verweisen, dass Sie konkret beruflich tätig sind.
Üben Sie eine andere Tätigkeit aus, bleibt Ihnen die BU-Rente nur dann erhalten, wenn die neue Tätigkeit nicht Ihrer bisherigen Lebensstellung entspricht. Der dominante Faktor dürfte die Höhe des neuen Einkommens sein.
Auf vielen Internetseiten geistern fixe Angaben von 70% – 80% herum. Diese pauschalen Angaben sind jedoch in der Regel nicht ganz korrekt. Die Rechtsprechung hat immer wieder festgestellt, dass es bei der Beantwortung der Frage nach zumutbaren Einkommensverhältnissen keine festen Quoten gibt.
Der Bundesgerichtshof hat in einem Urteil zur konkreten Verweisung festgestellt, dass die in den AVB verwendete Klausel nur aussagt, dass eine konkrete Verweisung ausgeschlossen ist, wenn Einkommensverlust von mehr als 20% vorliegen. Darunter müsse eine vergleichende Betrachtung hinsichtlich der Lebensstellung des Versicherungsnehmers vorgenommen werden. (BGH, Urteil vom 26. 6. 2019 – IV ZR 19/18)
Insbesondere bei niedrigem Einkommen können auch deutlich geringere Einkommensverluste nicht mehr zumutbar sein. Für einen Geringverdiener kann sich die Frage stellen, ob 800€ für eine neue Waschmaschine oder eine Urlaubsreise verwendet werden können. Für einen Gutverdiener stellt sich möglicherweise die Frage, ob im Urlaub ein 4- oder 5-Sterne-Hotel gewählt wird. Hier ist die Frage nach der individuellen Lebensstellung jeweils unterschiedlich zu beantworten.
Ihre bisherige Lebensstellung wird neben dem Einkommen auch durch die soziale Wertschätzung geprägt, die Ihr Beruf erfährt. Hierbei kommt es auf das Ansehen Ihres Berufsstandes in der Öffentlichkeit an. Die Rechtsprechung nimmer eine Gesamtbetrachtung anhand verschiedener Kriterien vor, die jeweils im Einzelfall zu beurteilen sind.
In der Rechtsprechung haben sich diverse Fallgruppen herausgebildet, welche für ein höheres Ansehen eines Berufs in der Öffentlichkeit sprechen:
Es komm darauf an (wie so oft). Es bestehen keine festen Quoten, welches Einkommen möglich ist, ohne den Anspruch auf die BU-Rente zu verlieren. Sicherlich können die beschriebenen 20% als ungefährer Richtwert gelten. Bewegt sich das Einkommen der neuen beruflichen Tätigkeit über 80% oder knapp unter diesem Wert, werden Sie damit rechnen müssen, dass ein Versicherer eine konkrete Verweisung ausspricht.
Der Wert kann sich insbesondere verschieben, wenn Ihr vorheriges Einkommen sehr niedrig war oder wenn Sie sehr viel verdient werden.
Außerdem wird in Grenzfällen eine deutlich geringere soziale Wertschätzung Ihres neuen Berufes einen hohen Stellenwert bei der vergleichenden Betrachtung erhalten.
Es lassen sich aber in der Rechtsprechung gewisse Tendenzen ausmachen, nach denen Einkommensverluste als zumutbar angesehen werden. Als grobe Orientierung kann die folgende Zusammenfassung dienen:
In einer Gesamtbetrachtung wird die soziale Wertschätzung eines Berufes immer mehr Bedeutung gewinnen, je weiter sich der Einkommensverlust von den 20% entfernt.
Während bei der konkreten Verweisung auf eine tatsächlich ausgeübte neue Tätigkeit abgestellt wird, geht es bei der abstrakten Verweisung um Berufe, die der Versicherungsnehmer rein theoretisch ausüben könnte – unabhängig davon, ob er diese Tätigkeit tatsächlich aufgenommen hat. Die abstrakte Verweisung ist heute in vielen neueren BU-Verträgen ausgeschlossen, insbesondere bei qualifizierten Berufen. Sie war früher gängige Praxis und findet sich insbesondere in Altverträgen noch.
Nicht selten melden sich Mandanten und vermelden stolz, ihr Vertrag hätte „keine Verweisung“. Der Versicherungsmakler hätte es so angepriesen. Leider muss den Mandanten erklärt werden, dass dies in der Regel nicht richtig ist. Viele Versicherer werben damit, dass die „Abstrakte Verweisung“ ausgeschlossen ist. Dies bedeutet jedoch nicht, dass es keine konkrete Verweisung gibt. Diese kann sich unauffällig in einem Halbsatz in den Versicherungsbedingungen finden.
Beruft sich der Versicherer auf eine konkrete Verweisung, so ist der Versicherungsnehmer im Erstprüfungsverfahren für das Nichtvorliegen einer Verweistätigkeit beweispflichtig. Klagt der Versicherungsnehmer auf die Leistungen seiner BU-Versicherung, stellt das Fehlen einer Verweisbarkeit ein Tatbestandsmerkmal dar.
Der Versicherungsnehmer muss den Versicherer über das Vorliegen einer anderen Tätigkeit informieren, welcher bei entsprechenden Anhaltspunkten eine konkrete Verweisung aussprechen wird. Der Versicherungsnehmer muss anschließend das Nichtvorliegen der Verweisungsmöglichkeit darlegen. Hierfür sind der alte und der neue Beruf detailliert gegenüberzustellen. Die prägenden Merkmale der neuen Tätigkeit müssen einem Prozess von Vornherein ausführlich vorgetragen werden (BGH, Urteil vom 12. 1. 2000 – IV ZR 85/99).
Ander sieht es aus, wenn sich der Versicherer im Nachprüfungsverfahren auf eine konkrete Verweisung beruft, denn nunmehr ist der Versicherer selbst für das Wegfallen der Anspruchsvoraussetzungen beweispflichtig. Allerdings muss auch in dieser Konstellation der Versicherungsnehmer die Anforderungen der neuen Tätigkeit darlegen. Verkennt der Anwalt des Versicherungsnehmers die Darlegungslast, muss das Gericht einen Hinweis erteilen (BGH, Urteil vom 21.04.2010 – IV ZR 8/08).
Die konkrete Verweisung in einem Gerichtsverfahren zu „handeln“, ist sehr anspruchsvoll, was die zitierten Urteile belegen. Im Internet finden sich selbst auf Webseiten spezialisierter Rechtsanwälte falsche Darstellung von Beweislastverteilungen. Ob dies aus Unkenntnis oder der schlechten Arbeit von SEO-Agenturen oder gar auf kreativer KI beruht, mag dahinstehen.
Haben Sie trotz Berufsunfähigkeit einen neuen Beruf aufgenommen oder planen Sie einen Zuverdienst mit einer Nebentätigkeit, ist immer an die Klausel zur konkreten Verweisung zu denken. Diese findet sich in nahezu allen Verträgen zu Berufsunfähigkeitsversicherung.
Inwieweit Sie die Grenzen der zumutbaren Einkommensverlauste ausreizen können oder wollen, hängt von der konkreten Ausgestaltung Ihrer Tätigkeit und (auch wenn es komisch klingen mag) von Ihrer Risikobereitschaft ab. Der Versicherer wird Ihnen vermutlich keine verbindliche Aussage hierzu liefern. Im Zweifel spricht er besser eine Verweisung aus.
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