Ein Schleudertrauma (medizinisch: HWS-Distorsion) zählt zu den häufigsten Verletzungen nach einem Auffahrunfall. Während die Verletzung in den meisten Fällen nach einigen Wochen ausheilt, verbleiben bei einem Teil der Unfälle bleibende Gesundheitsschäden. Viele private Unfallversicherer zahlen nicht, da Schäden angeblich nicht nachweisbar wären. Die Sachverhalte sind medizinisch und rechtlich oftmals schwierig, weshalb Versicherte ohne einen spezialisierten Rechtsanwalt für die private Unfallversicherung kaum weiterkommen dürften.
Die HWS-Distorsion, umgangssprachlich als Schleudertrauma bezeichnet, ist eine Weichteilverletzung im Bereich der Halswirbelsäule (HWS), die typischerweise durch eine plötzliche Beschleunigung und Abbremsung des Kopfes entsteht – etwa bei einem Auffahrunfall. Dabei kommt es zu einer Überstreckung und anschließenden Überbeugung der Halswirbelsäule, was die Muskulatur, Bänder, Gelenke und Nervenstrukturen im Nackenbereich beeinträchtigen kann.
Es handelt sich nicht um eine strukturelle Fraktur oder Luxation, sondern um eine funktionelle Störung, die meist ohne eindeutige bildgebende Befunde verläuft. Deshalb spricht man auch von einem „kontroversen“ Verletzungsbild: Es gibt oft keine eindeutigen strukturellen Schäden. Und genau an dieser Stelle setzen die Leistungsverweigerungen der privaten Unfallversicherer an.
Das klassische Schleudertrauma entsteht durch einen Beschleunigungsmechanismus (z. B. bei einem Heckaufprall im Auto), bei dem der Kopf zunächst ruckartig nach hinten und dann nach vorn geschleudert wird (Hyperextension → Hyperflexion). Dabei kommt es zu Mikroverletzungen in der Nackenmuskulatur, in den Bändern und möglicherweise zu Irritationen im Bereich der kleinen Wirbelgelenke oder Nervenwurzeln.
Die medizinische Einteilung erfolgt häufig nach der Quebec Task Force on Whiplash-Associated Disorders (WAD), welche vier Hauptgrade einer HWS-Distorsion / eines Schleudertraumas unterscheidet:
Grad 0: Keine Beschwerden, keine klinischen Befunde
Grad 1: Nackenschmerzen, keine objektiven Befunde
Grad 2: Nackenschmerzen plus muskuläre Verspannung oder Bewegungseinschränkung
Grad 3: Zusätzlich neurologische Ausfälle wie Reflexminderung oder Sensibilitätsstörungen
Grad 4: Strukturelle Verletzungen (Frakturen oder Luxationen) – streng genommen kein Schleudertrauma mehr, sondern eigenständige Verletzungen
Nach unserer Erfahrung zahlen die meisten private Unfallversicherungen unproblematisch nur bei einer HWS-Distorsion bei einem Grad 4. Bei allen anderen Graden wird selbst bei schwersten Folgen und lückenloser Dokumentation die Zahlung einer Invaliditätsleistung verweigert. Es kommt die übliche Begründung, der Versicherungsnehmer hätte keinen „Erstkörperschaden“ nachgewiesen.
Um Leistungen aus der privaten Unfallversicherung zu erhalten, muss der Unfallbegriff aus den Allgemeinen Unfallversicherungsbedingungen (AUB) erfüllt sein. Nach § 178 Absatz 2 VVG liegt ein Unfall vor, wenn die versicherte Person durch ein plötzlich von außen auf ihren Körper wirkendes Ereignis unfreiwillig eine Gesundheitsschädigung erleidet.
Bei einem typischen Auffahrunfall sind das plötzliche Unfallereignis und die Unfreiwilligkeit meist unproblematisch. Anders sieht es mit dem unfallbedingten Gesundheitsschaden aus.
Typischerweise bestreiten die Unfallversicherer den Eintritt einer Gesundheitsschadens aufgrund des Unfallereignisses. Oftmals wird ein Gutachten bei einem „Gutachterinstitut“ in Auftrag gegeben, wo dann behauptet wird, der Unfall wäre nicht nachgewiesen, da es an einem „Erstkörperschaden“. Der Begriff des „Erstkörperschadens“ ist ein typisches Narrativ von Versicherungsmedizinern, welches wissenschaftlich nicht haltbar ist. Es unterstellt, zum Nachweis eines unfallbedingten Gesundheitsschadens bei einem Schleudertrauma wären in jedem Fall deutliche strukturelle Verletzungen an der Halswirbelsäule oder dem Rückenmark notwendig. Das ist falsch und medizinisch längst widerlegt!
Zu HWS-Distorsionen in der privaten Unfallversicherung werden auffallend wenig Entscheidungen publiziert. Wenn sich Urteile finden lassen, waren Versicherungsnehmer meist gescheitert. Aus unserer Erfahrung hängt dies damit zusammen, dass Unfallversicherer sehr schnell Vergleichsangebote unterbreiten, wenn der Versicherungsnehmer gewinnen könnte. Der Hintergrund ist klar: Man möchte Präzedenzfälle vermeiden.
Problematisch erscheint, wie Gerichte immer wieder das Narrativ der Versicherer des „Erstkörperschadens“ übernehmen und Kausalitätsbegriffe vermengen. Es tauchen leider immer wieder Entscheidungen im versicherungsrechtlichen Bereich, in denen die Geschichte vom angeblich notwendigen strukturellen Schaden geradezu plump übernommen wird (zum Beispiel: OLG Brandenburg, Urt. v. 21. 2. 2020 – 11 U 44/17).
Richtig ist dabei, dass der Versicherungsnehmer im ersten Schritt eine Primärverletzung beweisen muss. Eine solche kann aber auch in bloßen Schmerzen liegen (OGH Wien, Beschluss vom 15.01.2003 – 7 Ob 289/02, 290/02). Bei einem schweren Schleudertrauma können unmittelbar nach dem Unfall Symptome wie plötzliche starke Schmerzen im Nacken und Rücken, Übelkeit bis Erbrechen oder Sehstörungen auftreten.
Verbleiben dauerhafte Gesundheitsschäden (Invalidität), ist ein zweites Mal die Kausalität zwischen körperlichem Schaden und Invalidität zu beweisen.
Die Hauptleistung in der privaten Unfallversicherung besteht in der Invaliditätsleistung. Diese richtet sich nach dem gutachterlich zu bestimmenden Invaliditätsgrad. Dessen Bemessung findet bei einer HWS-Distorsion in aller Regel außerhalb der Gliedertaxe statt. Die Höhe hängt maßgeblich vom Schweregrad der gesundheitlichen Beeinträchtigungen ab.
Das Oberlandesgericht Karlsruhe stellte bei einem HWS-Schleudertrauma einen Invaliditätsgrad von 25% fest (OLG Karlsruhe Beschluss vom 28.10.2019, Az.: 9 U 152/17). Hier hatte der Unfall zu chronischen Schmerzen geführt und dauerhaften Bewegungseinschränkungen geführt. Außerdem lag eine posttraumatische Belastungsstörung vor.
Bei besonders schweren Folgen kann es zu Lähmungserscheinungen der Beine oder anderer Körperteile kommen. Bei derartigen Folgen sind zusätzliche Invaliditätsgrade nach der Gliedertaxe zu addieren. In diesem Fall berechnen sich hohe Invaliditätsgrade, die meist deutlich über 50% liegen.
Auch Folgen wie kognitive Ausfälle, Sehstörungen, Inkontinenz oder Tinnitus müssen zusätzlich bemessen werden.
In den meisten Verträgen über eine private Unfallversicherung ist eine Klausel über die Mitwirkung von Krankheiten und Gebrechen enthalten, wonach der Versicherer bei Vorerkrankungen die Invaliditätsleistung kürzen kann.
Eine typische Vorerkrankung, die zu schweren Folgen nach einem HWS-Schleudertrauma führen kann, ist ein pathologisch verengter Spinalkanal (Spinalkanalstenose). Auch wenn diese Erkrankung über lange Zeit stumm verläuft, kann sie bei einer HWS-Distorsion dazu führen, dass die Verengung das Rückenmark (Myelon) geradezu „kneifzangenartig“ festhält. Kommt es zu einem Unfall, kann sich das Rückenmark nicht mehr im Liquor gegenüber dem Spinalkanal verschieben. In der Folge kann es zu schwersten neurologischen Folgen bis hin zu einer Querschnittslähmung kommen.
Je nach Ausprägung der Spinalkanalstenose und Schwere des Unfalls wird ein Mitwirkungsanteil von 25% bis 75% angenommen.
Der Beitrag hat gezeigt, wie komplex und schwierig das Thema HWS-Schleudertrauma und private Unfallversicherung ist. Komplizierte Kausalitätsfragen, eine schwierige Bestimmung des Invaliditätsgrads und die Kürzung der Invaliditätsleistung aufgrund eines Mitwirkungsanteils bieten Unfallversichern viele Ansatzpunkte, um Zahlungen zu verweigern.
Versicherungsnehmer sollten bei Problemen mit dem Unfallversicherer immer einen spezialisierten Rechtsanwalt für die private Unfallversicherung zu Rate ziehen. Wir bieten bei Fragen und Probleme immer eine kostenlose Erstberatung an.
Copyright © 2024 Rechtsanwalt Stephan Schneider