Eigentlich ist es aufgrund des Anspruchs auf rechtliches Gehör selbstverständlich. Greift ein Versicherter das Gutachten eines privaten Unfallversicherers in einem Klageverfahren an und beantragt die Einholung eines Sachverständigengutachtens, muss das Gericht ein solches Gutachten einholen. Vereinzelt begegnet man als Anwalt in der privaten Unfallversicherung aber tatsächlich Richtern, die der Ansicht sind, selbst über genügend Fachwissen zu verfügen, um anhand des (Privat-) Gutachtens des Unfallversicherers eine Aussage über Vorhandensein und Höhe der Invalidität treffen zu können.
Das richtige Urteil des OLG Nürnberg (Endurteil v. 19.08.2021 – 8 U 1139/21) trifft hierzu eine eindeutige Aussage und kritisiert das Landgericht scharf. Es stellt eine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör die vom Versicherungsnehmer beantragte Einholung eines gerichtlichen Sachverständigengutachtens abzulehnen, da aus Sicht des Gerichts das Nichtvorliegen der Anspruchsvoraussetzungen bereits durch zwei vom Versicherer beigebrachte Privatgutachten erwiesen sei.
Der 68-jährige Kläger erlitt am 20.10.2016 einen im Haushalt einen Unfall und zog sich einen Oberschenkelhalsbruch zu. Nach Anmeldung der Ansprüche holte der Versicherer zwei medizinische Gutachten ein und zahlte lediglich auf einen Invaliditätsgrad von 21%. Die Zahlung einer Unfallrente wurde vom Unfallversicherer abgelehnt. Der Versicherungsnehmer klagte daraufhin auf Zahlung einer Unfallrente in Höhe von 750 €.
Das Landgericht wies die Klage ohne weitere Beweisaufnahme ab. Das Gericht begründete dies im Wesentlichen damit, das der Kläger keine Anhaltspunkte geliefert hätte, dass die in den beiden Privatgutachten festgestellte Invalidität unzutreffend sei.
Das Oberlandesgericht hob die Entscheidung auf und verwies die Sache zurück an das Landgericht.
Das erstinstanzliche Urteil litt an einem entscheidungserheblichen Verfahrensfehler. Der Kläger wurde in seinem Anspruch auf rechtliches Gehör aus Art. 103 Abs. 1 GG verletzt.
Der Beweisantritt durch Sachverständigengutachten war weder unzulässig noch fehlte es an der Eignung zum Beweis der behaupteten Tatsache.
„Bei der Annahme eines von vornherein ungeeigneten Beweismittels ist ohnehin äußerste Zurückhaltung geboten und sie ist auch im vorliegenden Fall nicht ersichtlich. Im Gegenteil ist die Einholung eines fachmedizinischen Sachverständigengutachtens in der Regel ein unumgängliches Beweismittel, um dem Tatrichter die Feststellung des konkreten Invaliditätsgrades zu ermöglichen.“
Auch wenn eine behauptete Tatsache als unwahrscheinlich erscheint, ist die Übergehung eines Beweisangebotes nicht gerechtfertigt. Namentlich kann das Landgericht ein gerichtliches Sachverständigengutachte nicht mit Begründung ablehnen, das Gegenteil der Behauptungen des Klägers stehe bereits durch die Privatgutachten des Versicherers fest. Dies ist eine unzulässige vorweggenommene Beweiswürdigung und verstößt gegen § 286 Abs. 1 ZPO.
Es ist auch nicht notwendig, dass eine Partei ein eigenes Privatgutachten einholt, um mit fachkundigen Stellungnahmen das Privatgutachten des Gegners zu entkräften und damit den Weg einer gerichtlichen Beweisaufnahme überhaupt erst zu eröffnen. Es ist rechtsfehlerhaft anzunehmen, der Kläger müsse zunächst „nachvollziehbare Anhaltspunkte“ für die Fehlerhaftigkeit der Privatgutachten vorbringen.
„Solche Privatgutachten stellen keinen Sachverständigenbeweis dar und können einen solchen auch nicht ohne Weiteres ersetzen. Es handelt sich vielmehr um qualifizierten urkundlich belegten Parteivortrag. Derartige Gutachten können daher im Wege des Urkundenbeweises in die Beweiswürdigung einbezogen werden (§ 416 ZPO). Eine Verwertung als förmliches Sachverständigengutachten ist hingegen nur mit Zustimmung beider Parteien möglich“
Das Gericht darf einer Partei nicht den Beweis dadurch abschneiden, indem es das Gegenteil bereits durch die vorliegenden Urkunden für beweisen hält. Nur in Ausnahmefällen und unter strengen Anforderungen, kann etwas anderes gelten. Die Beweisfrage müsste zweifelsfrei und erschöpfend beantwortet sein, die Partei sich nicht näher zum Privatgutachten einlassen und der Richter müsste ausschließen können, dass ein Sachverständigengutachten zu einem anderen Ergebnis käme.
Aber auch dann kommt dies nur dann in Betracht, wenn es sich um eine einfache Sachlage handelt und eine entsprechende Sachkunde des Gerichts vorliegt, welche in der Entscheidung darzulegen ist.
„Darüber hinaus ist zu berücksichtigen, dass an die Qualität der Angriffe der beweispflichtigen Partei gegen ein vom Gegner veranlasstes Privatgutachten keine zu hohen Anforderungen gestellt werden dürfen (vgl. OLG Köln, VersR 2014, 492, 493). Im vorliegenden Fall hatte der Kläger unter Beweisantritt insbesondere vorgetragen, dass keine berücksichtigungsfähige Vorinvalidität (mehr) vorliege und dass eine solche auch nicht – wie in beiden Privatgutachten angenommen – mit 3/10 Beinwert in Abzug zu bringen sei. Mehr kann in einem Unfallversicherungsprozess von einem medizinischen Laien im Stadium vor der gerichtlichen Beweisaufnahme grundsätzlich nicht verlangt werden.“
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