Das Oberlandesgericht Braunschweig traf eine bemerkenswerte Einzelfallentscheidung zur arglistigen Täuschung in der Berufsunfähigkeitsversicherung. Obwohl die Anfechtungsfrist verstrichen war, versagten die Richter dem Versicherungsnehmer den Anspruch auf die BU-Rente.
Probleme mit der vorvertraglichen Anzeigepflicht und die Erklärung von Anfechtung und Rücktritt gehören zu den häufigen Problemen für den Rechtsanwalt in der Berufsunfähigkeitsversicherung. Warum diesen Fall so besonders ist, lesen Sie im folgenden Beitrag.
OLG Braunschweig (Beschl. v. 11.10.2023, Az. 11 U 316/21).
Der Versicherer kann einen Versicherungsvertrag anfechten, wenn der Versicherungsnehmer im Antragsformular falsche Angaben macht. Das Anfechtungsrecht ist in § 123 BGB geregelt:
§ 123 Anfechtbarkeit wegen Täuschung oder Drohung
(1) Wer zur Abgabe einer Willenserklärung durch arglistige Täuschung oder widerrechtlich durch Drohung bestimmt worden ist, kann die Erklärung anfechten.
(…)
Das Gesetz regelt außerdem, dass eine Anfechtung innerhalb bestimmter Fristen zu erklären ist:
§ 124 Anfechtungsfrist
(1) Die Anfechtung einer nach § 123 anfechtbaren Willenserklärung kann nur binnen Jahresfrist erfolgen.
(2) Die Frist beginnt im Falle der arglistigen Täuschung mit dem Zeitpunkt, in welchem der Anfechtungsberechtigte die Täuschung entdeckt, im Falle der Drohung mit dem Zeitpunkt, in welchem die Zwangslage aufhört. (…)
(3) Die Anfechtung ist ausgeschlossen, wenn seit der Abgabe der Willenserklärung zehn Jahre verstrichen sind.
Wer befürchtet, im Antragsformular Angaben vergessen zu haben, könnte somit auf die Idee kommen, zehn Jahre abzuwarten, bevor eine BU-Rente beantragt wird.
Aufgrund der exzessiv versicherungsfreundlichen Rechtsprechung zur arglistigen Täuschung, kann ein Abwarten also durchaus eine Option darstellen.
Auf diese Idee kam auch ein Polizist, der bei Abschluss seiner Berufsunfähigkeitsversicherung trotz ausdrücklicher Nachfrage wahrheitswidrig verschwieg, dass er unter psychischen Problemen litt und sich bereits in Behandlung begeben hatte.
In den folgenden Jahren war der Polizist immer wieder aufgrund psychischer Erkrankungen krankgeschrieben und wurde schließlich berufsunfähig. Der Versicherungsnehmer meldete den Versicherungsfall schließlich drei Tage nach Ablauf der 10-jährigen Frist aus § 124 Abs. 3 BGB.
Der Versicherer erklärte trotz Fristablauf die Anfechtung wegen arglistiger Täuschung.
Der Mann erhob Klage beim Landgericht Göttingen (Urteil vom 12.10.2021 – 5 O 25/20), welches den Anspruch auf die BU-Leistung ablehnte. Das OLG Braunschweig schloss sich im Berufungsverfahren der Entscheidung an.
Dem Versicherer habe zunächst das Anfechtungsrecht aus § 123 BGB zugestanden, weil der Versicherungsnehmer seinen Gesundheitszustand „verschleiert“ und bewusst den Eindruck erweckt habe, dass er unter keinen psychischen Erkrankungen litt.
Das Gericht bestätigte, dass die Anfechtung aber nicht mehr ausgeübt werden könnte, da die Ausschlussfrist nach § 124 Abs. 3 BGB verstrichen war.
Allerdings sei dem Versicherungsnehmer sein Anspruch auf die Leistung aus der Berufsunfähigkeitsversicherung zu versagen, da er unter Verstoß gegen Treu und Glauben (§ 242 BGB) den Versicherungsfall absichtlich nach Ablauf der 10-Jahresfrist gemeldet habe. Er habe es in den 10 Jahren nach Vertragsabschluss „genau darauf angelegt“, die Frist verstreichen zu lassen und die Ausübung des Anfechtungsrechts gezielt vereitelt.
Die Meldung der Berufsunfähigkeit sei auch nicht durch Zufall genau drei Tage nach Fristablauf erfolgt. Der Versicherungsnehmer habe bereits ein Jahr zuvor nicht mehr arbeiten können und von seiner Berufsunfähigkeit gewusst. Bei einer weiteren Berufsunfähigkeitsversicherung habe er den Versicherungsfall auch sofort angezeigt.
Eine Nichtzulassungsbeschwerde beim Bundesgerichtshof wurde zurückgewiesen (BGH, Beschluss vom 23.10.2024 – IV ZR 229/23).
Die vollständige Entscheidung ist derzeit nicht veröffentlicht. Es besteht lediglich eine Pressemitteilung des Oberlandesgerichts. Dies ist bereits deswegen zu kritisieren, da es sich hier um eine Einzelfallentscheidung handeln dürfte.
Der Versicherer kann sein Anfechtungsrecht maximal 10 Jahre nach der behaupteten arglistigen Täuschung erklären. Anschließend ist mit der Anfechtung nach § 124 Abs. 3 BGB mit der Anfechtung ausgeschlossen. Es kann daher durchaus sinnvoll sein, mit einem Leistungsantrag abzuwarten, wenn der Ablauf der Frist bevorsteht.
Im vorliegenden Fall scheinen mehrere Anhaltspunkte vorgelegen zu haben, aus denen hervorging, dass es der Versicherungsnehmer von Anfang an darauf angelegt hatte, sich die Versicherungsleistung zu erschleichen. Die Gerichte haben die Rechtslage über das Rechtsinstitut der unzulässigen Rechtsausübung über § 242 BGB korrigiert und den Anspruch auf die BU-Rente versagt. Dem Mann dürfte tatsächlich eine gewisse fraudulente Energie nicht abzusprechen sein.
Es stellt sich allerdings die Frage, woher der BU-Versicherer über Sachverhalte Kenntnis von Sachverhalten erlangte, die mehr als 10 Jahre zurücklagen. Vor dem Hintergrund datenschutzrechtlicher Vorschriften dürfte dies nicht unproblematisch sein.
Im Ergebnis sollte es sich bei dem Fall um eine extreme Einzelfallentscheidung handeln.
Copyright © 2024 Rechtsanwalt Stephan Schneider